Look, if you had one shot or one opportunity
To seize everything you ever wanted in one moment
Would you capture it or just let it slip?
— Eminem, Lose Yourself
Was bedeutet es, den entscheidenden Moment zu erkennen und ihn nicht zu verpassen? Raumzeit-Pünktlichkeit ist eine Idee für ein neues Verständnis von Verbindlichkeit.
Unpünktlichkeit im Alltag – ein klares Signal
Wer kennt sie nicht – diese denkwürdigen Momente, in denen ein Freund wiederholt mit deutlicher Verspätung zu einer Verabredung erscheint – ohne erkennbare Einsicht in die eigene Unpünktlichkeit oder Rücksicht auf die Wirkung seines Verhaltens. In solchen Momenten entsteht ein deutliches Signal: Die gemeinsam verabredete Zeit scheint zweitrangig zu sein.
Auch im beruflichen Kontext begegnet man solchen Experten. Eine flüchtige Entschuldigung, kaum ausgesprochen, wird sofort vom nächsten Tagesordnungspunkt routiniert überrollt – schließlich ist ja Zeit Geld. Dabei wird übersehen, dass jede Verspätung ein Bruch in der Verbindlichkeit ist und damit auch ein Risiko für Vertrauen sowie für Effektivität und Effizienz in der Zusammenarbeit.
Unpünktlichkeit ist kein harmloses Versehen, sondern oft ein wiederkehrendes Muster, das Beziehungen belastet – privat wie beruflich.
Pünktlichkeit als Ausdruck von Respekt
Pünktlichkeit war in meiner Kindheit eine Tugend – ein Versprechen, das man einhielt, getragen von einem gesunden Maß an mittelständischer Moral. Heute verstehe ich sie als Ausdruck von Verbindlichkeit, als ein klares „Ja“ zu einer Vereinbarung. Sie ist ein Zeichen des Respekts – für die Zeit, die Freiheit und die Selbstbestimmung meines Gegenübers.
Raumzeit-Pünktlichkeit: Mehr als nur Disziplin
Ich möchte den Begriff der Pünktlichkeit erweitern – inspiriert von Einsteins Raumzeit und Eminems Lose Yourself – zur Raumzeit-Pünktlichkeit. Während klassische Pünktlichkeit oft als moralischer Imperativ verstanden wird, zur vereinbarten Zeit zu erscheinen, geht Raumzeit-Pünktlichkeit weiter: Es geht um das bewusste Erscheinen in einem bestimmten Moment, an einem bestimmten Ort, um gemeinsam etwas zu gestalten. Ein Ereignis, das nur in diesem Zeitfenster mit allen Beteiligten gelingen kann. Fehlt jemand, scheitert das Vorhaben.
Pünktlichkeit wird so zu einem Commitment – weit über ein preußisches Disziplinverständnis hinaus.
Die stille Entscheidung der Zuspätkommer
Man stelle sich vor: Der Pfarrer erscheint nicht zur Trauung, die Nationalspielerin fehlt beim Anpfiff des Finales, der Chirurg verpasst die Transplantation. Unvorstellbar? Und doch ist es im Alltag erstaunlich akzeptiert, wenn Menschen zu privaten oder geschäftlichen Terminen zu spät kommen. Dabei wären dieselben Personen bei Hochzeit, Finale oder Operation pünktlich – weil es ihnen wichtig ist.
Und genau das macht das Verhalten so unangenehm: Zuspätkommer wägen ab – bewusst oder unbewusst – und treffen eine Entscheidung über Wichtigkeit, Konsequenzen und die Toleranz ihres Gegenübers. Unpünktlichkeit ist oft ein Ausdruck egozentrischer Opportunität – ein respektloser Umgang mit dem „the one moment“ anderer. Sie gefährden diesen Moment – und damit das gemeinsame Ziel.
Führung braucht Klarheit
Doch wie geht man als Führungspersönlichkeit damit um? Akzeptanz untergräbt den Respekt im Team. Eine zu harte Reaktion vermiest allen den Start ins Meeting – schließlich ist das Eintreffen des Zuspätkommers dessen Start. Ein unangenehmes Dilemma.
Ich plädiere dafür, Zuspätkommern einmalig klare Grenzen zu setzen. Wer es nicht gelernt hat, wird es auch später kaum freiwillig ändern. Ändern sie ihr Verhalten nicht, ändere ich meines – und gestalte möglichst wenig mit ihnen gemeinsam. Das geht bis Null. Aus meiner Führungspraxis kann ich berichten: Eine klare Haltung löst das Problem zu 80 %. Mit den verbleibenden 20 % kann man leben. Nobody is perfect.
Kulturelle Perspektiven: Commitment bleibt Commitment
Ein häufiges Gegenargument: In anderen Kulturen wird Pünktlichkeit entspannter gehandhabt. Eine sehr geschätzte Kollegin berichtete mir:
„In Äthiopien habe ich den Umgang mit Pünktlichkeit anders erlebt. Es ging nicht um die genaue Zeit, sondern um klare Prioritäten in Zeiträumen. Der Bus fährt erst, wenn er voll ist. Die Patienten werden der Reihe nach behandelt. Im Gegenzug steht in der Freizeit die Familie im Vordergrund – und es ist verpönt, zu arbeiten.“
Ich sehe darin keinen Widerspruch, sondern eine Bestätigung für ein kulturübergreifendes Verständnis von Commitment. In Äthiopien verabredet man sich vielleicht klüger – nicht zu einem Zeitpunkt, sondern zu einem Zeitraum. Die Rahmenbedingungen sind anders definiert, das Commitment bleibt. Einfach übertragbar ist das nicht, entsteht Kultur doch über Generationen und Jahrhunderte.
Ich werde meine Kollegin noch einmal fragen, wie in Äthiopien reagiert wird, wenn ein ein Commitment nicht eingehalten wird. Ich bin gespannt auf ihre Antwort.
Strategische Dimension der Zeit
Ein kurzer strategischer Exkurs: Von allen businessrelevanten Ansätzen arbeitet die Delay-Strategie ausschließlich mit der Zeit oder im Kontext dieses Beitrags: mit der zeitlichen Verschiebung des „one moment“ in die Zukunft – die Inhalte sind zweitrangig. Zwei Varianten sind besonders relevant:
Strategische Verzögerung bei drohender Niederlage
- Eine Entscheidung wird bewusst verschoben, um sich mit der gewonnenen Zeit neu zu positionieren. Der Zeitpunkt wird in Absprache verändert. Mit starkem Kundensupport ist das enorm wirkungsvoll.
Taktische Verzögerung mit Kalkül
- Ihr Verhandlungspartner lässt Sie bewusst warten, um Ungeduld zu provozieren. In mindestens 50% der Fälle schadet sich der Provozierte durch eine impulsive Reaktion selbst. Hier sind Geduld und Beherrschung gefragt – und das ist definitiv nicht einfach.
Wenn Logik auf Realität trifft: Der unforced error
Zuletzt ein Gedanke aus dem 2helmets-Prozess, der stark auf logischer Konsistenz beruht – auf der klaren Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“: Wird eine Strategie mitsamt Umsetzungsplan inhaltlich und logisch sauber durchdacht, kann sie dennoch scheitern, wenn sie auf eine „falsche“ Realität trifft. Die Folgen für Strategie und Projekterfolg können gravierend sein – bis hin zum vollständigen Scheitern.
Oft liegt die Ursache nicht in mangelnder Kompetenz oder fehlenden Ressourcen, sondern in einem vermeidbaren Fehler, einem unforced error: Ein Kollege, ein Partner oder der Kunde hält eine Zusage nicht ein, macht nicht das, was er versprochen hat. In einem logisch aufgebauten Ablauf kann ein solches Verhalten eine negative, mitunter katastrophale Wirkung entfalten. Ärgerlich, weil vermeidbar.
Hier schließt sich der Kreis zur Raumzeit-Pünktlichkeit: Verantwortung für das eigene Handeln und seine logischen Konsequenzen bewahrheitet sich in einem entscheidenden Moment – dem Moment, in dem du Verantwortung übernimmst, für dich selbst und für andere oder eben nicht:
The moment, you own it, you better never let it go.
— Eminem, Lose Yourself
Pünktlichkeit – verstanden als Raumzeit-Commitment – ist mehr als Höflichkeit. Sie ist ein strategischer Erfolgsfaktor. Wer den Moment verpasst, riskiert mehr als nur einen schlechten Eindruck. Er riskiert, dass aus einer „true“-Strategie eine „false“-Realität wird. Und das ist ein Preis, den am Ende niemand zahlen möchte.
Wer den Moment erkennt und ihn mit Verantwortung und Tatkraft füllt, gestaltet Zukunft. Raumzeit-Pünktlichkeit ist kein Ideal, sondern zuallererst eine Entscheidung.
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